Unsere Bedrängnis, unsere Zuflucht
Not lehrt beten – so vermeint es ein geflügeltes Wort. Nichts ist weniger gewiss. Prüfen wir es an Beispielen. Als vor achtzig Jahren in Europa die Waffen schweigen, hatte das deutsche Volk nichts, keinerlei Zukunftsperspektive, außer einer dünnen – und bei Weitem nicht immer erfüllten – Hoffnung auf die Milde der Sieger. Wann wäre die Not jemals größer gewesen? Und doch hatten wir tatsächlich nicht „nichts“. Ein unzerstörbarer Kern aufrechten Christentums hatte der Willkürherrschaft widerstanden und sich Verfolgung, Tod und Folter ausgesetzt. Darauf, und einzig darauf, konnte die Hoffnung auf einen Neubeginn gründen: Es konnte nur die Hoffnung sein, der Herr werde Seine schützende Hand über ein Volk halten, das Ihm in weiten Teilen einmal mehr untreu geworden war. Die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik bekennt sich zur Verantwortung vor Gott (und den Menschen, was in Wahrheit nahezu sinngleich ist, geht man von der Gottesähnlichkeit des Menschen aus – dann ist diese Verantwortung ungeteilt). Alle gesetzlich fixierten Grundrechte sind Abwehrrechte des einzelnen Menschen gegen den Staat; sie wurzeln in der unantastbar genannten Menschenwürde. Das Grundgesetz ist, wie vielfach erkannt wurde, dem christlichen Welt- und Menschenbild zutiefst verpflichtet und ohne dieses letztlich unverständlich. Ein streng säkulares Gemeinwesen könnte ähnliche Formulierungen wählen, um sich eine Verfassung zu geben; es wären aber nur Worte ohne Verlässlichkeit und Belastbarkeit. Diese Feststellung ist höchst bedeutsam, und wir werden darauf zurückzukommen haben.
Lehrt Not beten? – Als Einsprengsel nur zitiere ich den damaligen Geistlichen der Gemeinde (Heiligenstedten bei Itzehoe), der später auch mein lieber Vater mehr als zwanzig Jahre lang als Pastor diente. A.D. 1947 beklagt Pastor Bronnmann, dass die eingetroffenen Vertriebenen „ihre Tage und Monate leer und öde dahinlebend oder vegetierend“ verbrächten und dass zwischen Einheimischen und Vertriebenen eine Kluft entstanden sei, „die nur überbrückt werden könnte, wenn sich beide Teile zu Gottes Wort halten würden.“ Not lehrt nur allzu oft fluchen – auch dies ein wichtiger Punkt.
Deutsches Selbstverständnis – christlich?
Erster Zeitsprung. Ein deutsches Staatsoberhaupt, Mitglied einer formal christlich orientierten politischen Partei, macht Geschichte mit dem Bemerken, eine gewisse Religionsgemeinschaft gehöre „zu Deutschland“. Die betreffende Debatte soll hier nicht nochmals eröffnet oder verfolgt werden. Fragen wir vielmehr: Gehört das Christentum (noch) zu Deutschland? – Die Überlegung ist weniger absurd, als sie noch vor Jahren erschienen wäre. Hierbei geht es nur vordergründig um die ungebrochene Tendenz zum Austritt aus einer der großen Kirchen. Jenes Land, das sich ein christlich inspiriertes Grundgesetz als Vorbedingung des gesellschaftlichen Miteinanders auf allen Ebenen – mit der „Ewigkeitsgarantie“ der Grundrechte – erwählen konnte, existiert längst nicht mehr. Alles andere wäre katastrophale Selbsttäuschung. Sammeln wir Indizien. Die Webseite welt.de (Springer) hatte jüngst in kurzen Abständen Beiträge über Kirchenschändungen, die zunehmend systematisch und systemisch erscheinen. Es geht nicht um Gelegenheitsvandalismus.
„Gegenwind“ und Sturm
Schlimmer noch womöglich: Die öffentliche Treue zu Bibel und Bekenntnis ist nicht mehr nur Spott und Diffamierung, sondern zunehmend auch strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Als Wunderwaffe dient der § 130 StGB – „Volksverhetzung“, ein Begriff, dessen Anwendbarkeit in jüngster Vergangenheit ständig erweitert wurde. Ganz makaber ist der Rekurs auf den Schutz der Menschenwürde (siehe oben!) – ein Rechtsinstitut, das nunmehr dazu dient, Kritik an nahezu beliebigen manifesten Gruppen strafzubewehren. Nahezu beliebigen Gruppen, weil bibel- und bekenntnistreue Christen kaum je dieser Schutz vor vermeintlich oder tatsächlich hetzerischen Attacken gewährt wird. Im Gegenteil kommt es dazu, dass Personen oder Gemeinden sich aufgrund „umstrittener“ Äußerungen, teils auch schlichtweg konstruierter Vorwürfe, schweren Repressalien ausgesetzt sehen. Beispielhaft seien St. Martini Bremen (Pastor Latzel) und die freikirchliche Gemeinde Riedlingen (Pastor Tscharntke) genannt.
Ungeborenes Leben: Ein Menschenbild der Zeit
Zweiter Zeitsprung – nicht weit entfernt. Als politische Stunde Null der derzeitigen Berliner Regierungskoalition lässt sich der Versuch betrachten, die SPD-Juristin Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin wählen zu lassen. Dem umstrittenen CDU-Politiker Friedrich Merz kam der Umstand zu Hilfe, dass sich mit Unklarheiten hinsichtlich der Promotionsschrift BGs ein Nebenschauplatz öffnete und deren Rückzug unvermeidlich wurde. BG hatte sich für eine „Liberalisierung“ (wie es in den ÖRR-Medien durchgängig hieß) des Abtreibungsrechts auf der Grundlage einer rhetorischen Relativierung der Menschenwürde ausgesprochen. Merz hatte im Bundestag die Frage, ob er eine Wahl BGs mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eindeutig bejaht. Zur Erinnerung: Merz hatte den Amtseid mit dem mittlerweile optionalen Zusatz geleistet, er wolle sein Amt mit Gottes Hilfe ausüben. Wir vermuten, dass er sich für einen Christen hält.
Leben – atheistisch betrachtet
Woher stammt dieses Denken? – Der australische Philosoph Peter Singer, einer der einflussreichsten atheistischen Intellektuellen unserer Zeit, bedient sich eines gestuften Begriffs schutzwürdigen Lebens, wobei er übrigens keine grundsätzliche Unterscheidung von Mensch und Tier zulässt. Eine spezielle Menschenwürde gibt es in Singers Modell von Anfang nicht. Dieses Gedankengut bildet sich in BGs Vorstellungen deutlich ab. Stark verkürzt gesagt bindet Singer die Schutzwürdigkeit des Lebens an die Steuerungs- und Empfindungsfähigkeit dieses Lebens zurück. Naturwissenschaftlich betrachtet hängt die Fähigkeit zur Schmerzempfindung beispielsweise deutlich von der Komplexität des Nervensystems des betreffenden Organismus ab. Niedere Tiere „wissen“ und empfinden vermutlich sehr viel weniger als der Mensch, was sich im Strafrecht niederschlägt: Wer ein Tier quält oder tötet, wird weniger hart bestraft als ein Mörder.
Dies scheint plausibel. Singers Denken hat jedoch ebenso absurde wie gefährliche Auswirkungen: Ein bewusstloser oder narkotisierter Mensch ist in seiner Wahrnehmung und Empfindung massiv eingeschränkt. Niemand würde behaupten, dass ein solcher Mensch straflos verletzt oder gar umgebracht werden darf, doch gibt Singers Entwurf kein schlüssiges Argument gegen solches Handeln mehr zu erkennen. Seine verworrene Philosophie lässt das Tötungsverbot insgesamt fraglich erscheinen – wenn mit dem biologischen Tode alles vorbei ist, erleidet das Opfer keinen greifbaren Nachteil: Der tote Mensch hat kein Wissen von seinem Zustand, fühlt keinen Schmerz mehr. Was bleibt, ist ein abstraktes philosophisches Argument, wonach der Verstorbene oder auch Getötete „Möglichkeiten“ einbüße. Das Tötungsverbot ist nicht mehr absolut, sondern der Abwägung übergeben. Es ist kein Zufall, dass Singer eine Diskussion über Euthanasie und sog. „aktive Sterbehilfe“ angestoßen hat. Dem nur noch als besserer Zellklumpen betrachteten Menschen eignet keine unbedingt zu wahrende Würde; sein Leben ist der gesellschaftlichen, politischen und pseudowissenschaftlichen Willkür schutzlos ausgeliefert.
Eine christliche Antwort
Wie dagegenhalten? Eberhard Jüngel sagt, nur wer das Leben zu geben vermag, darf es auch nehmen – und das kann einzig Gott sein. Wer das bezweifelt, öffnet die Tore zu Barbarei. Solches klar festzuhalten wäre des Amtes der Kirchen gewesen, als die Diskussion um eine „liberale“ Verfassungsrichterin geführt wurde. Stattdessen äußerte etwa die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, man dürfe das Gespräch über das Abtreibungsrecht nicht zum „Kulturkampf“ stilisieren. Also bitte: Es geht doch nur um Leben und Tod – was soll die Aufregung! – Nochmals gefragt: Gehört das Christentum noch zu Deutschland? Oder anders: Wer braucht Kirchenfunktionäre, die sich nur noch als Stichwortgeber einer antichristlichen, menschenverachtenden Politik inszenieren?
Um den Anfängen zu wehren ist es längst zu spät. Der gezielte Tabubruch wird Folgen haben. Fällt der Schutz des ungeborenen Lebens vollständig, ist der Weg gebahnt. Was ist mit den Alten, den chronisch Kranken, den Langzeitarbeitslosen, den Verwirrten, den Gescheiterten … Nun? Brauchen wir die alle wirklich? Müssen die uns alle erhalten dauerhaft bleiben? Jesus Christus war der Anwalt solcher Menschen, ihrer aller, ohne Ausnahme. In Zukunft kann über die Ausgegrenzten politisch entschieden werden, je nach Opportunität. Manche sind als gesellschaftliche Gruppen auch Machtfaktoren und demnach unantastbar, andere nicht. Falls und wenn es dazu kommt, tragen die Schuld auch nominelle Christen, die nicht widersprochen und nicht widerstanden haben.
Ausblick – auf das Verhängnis?
„Alles Große steht im Sturm“ – so wollte es ein weiterer Philosoph (Martin Heidegger) betrachtet wissen. Uns aber darf es nicht um Heldentum gehen. Die Kirche ist groß dort, und einzig dort, wo sie dient, nämlich ihrem Herrn und seinem Wort gehorsam ist. Auch Herrschaft in der Demokratie ist wohlverstandener Dienst an Gott und den Menschen. Um das im Grundgesetz noch ausdrücklich gemachte Bewusstsein hierfür stand es in diesem unserem Land schon einmal besser – und es gibt einen Zusammenhang: Der frühere US-Präsident Ronald Reagan soll bemerkt haben, wo das Christentum falle, falle bald auch die Demokratie. Er hat tief gesehen; wir sind unfreiwillig Zeugen. Zeit zum Gebet ist jede Zeit – so uns die Not dieser Zeit nicht die Hände faltet, sind wir rettungslos verloren.
Klaus Dieter Schulz,
Diplom Psychologe, M.A.
stellv. Vorsitzender LV Schleswig-Holstein
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